Ostkirchen: Ihre Liturgien

Ostkirchen: Ihre Liturgien
Ostkirchen: Ihre Liturgien
 
Für viele Menschen steht dem abendländischen. Christentum der Katholiken und Protestanten »die Ostkirche« als morgenländische Entsprechung gegenüber. »Die Ostkirche« gibt es aber gar nicht, sondern nur die Vielfalt der Ostkirchen. Dabei überragt die in den verschiedenen Kulturen beheimatete und den »byzantinischen« Ritus der Kaiserstadt Byzanz feiernde orthodoxe Kirche die anderen »altorientalischen« Nationalkirchen an Größe, historischer Bedeutung und kultureller Vielfalt. Neben dem byzantinischen Ritus, der die Einheit der orthodoxen Kirche begründet, unterscheidet man den westsyrischen Ritus der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochia, den ostsyrischen (chaldäischen) Ritus der nestorianischen Kirche des Ostens, den koptischen Ritus der Kirche Ägyptens und den Ritus der äthiopischen Kirche. Auf eine ganz eigene Entwicklungsgeschichte kann der Ritus der armenisch-orthodoxen Kirche zurückblicken. Orientiert an dem lokalen Gepräge der kirchlichen Zentren entwickelten sich durch die Übernahme vorhandener Symbolik die verschiedenen östlichen Riten, wobei das Wallfahrtszentrum Jerusalem mit seiner Form des Gottesdienstes alle beeinflusst hat. Der Reichtum unterschiedlicher Traditionen ist bereits durch die Missionspraxis des Ostens grundgelegt. Denn anders als im Westen hat man hier den Gottesdienst immer in den Sprachen der zu missionierenden Völker gefeiert. Große Wirkung erlangte vor allem die altkirchenslawische Sprache, deren Schrift aus der griechischen Schrift abgeleitet wurde, ergänzt um einige Zeichen für slawische Laute, und auf die Bibelübersetzung von Kyrillos und Methodios zurückgeht; sie hat sich in vielen osteuropäischen Ländern durchgesetzt.
 
Vor allem Kirchenbau und Gottesdienst unterscheiden sich sehr von den abendländischen Formen. Es gibt keine festen Baustile wie die Romanik oder Gotik im Westen, sondern unabhängig von lokalen Besonderheiten bildet die dreischiffige Basilika den Grundtyp byzantinischen Kirchenbaus. Die Kircheneinrichtung mutet ebenfalls fremd an; so fehlen Sitzgelegenheiten, denn die Gläubigen stehen während der langen Gottesdienste. Die Wände sind mit Ikonen geschmückt. Sie sind niemals nur Schmuck, auch keine an Menschen und Ereignisse erinnernden Bilder, sondern Medien der Begegnung mit dem lebenden. Christus und den mit ihm lebenden Heiligen. Über die Ikonen tritt der Betrachter mit den unsichtbar Gegenwärtigen in eine lebende Beziehung. Die Ikonenwand (»Ikonostase«) mit einem festen Aufbau der Ikonen trennt in Erinnerung an den Jerusalemer Tempel das »Allerheiligste« des Altarraums vom Gläubigenraum ab.
 
Während der abendländische Christ die Ikonostase oft als Ausschluss vom liturgischen Geschehen zwiespältig beurteilt, deuten orthodoxe Christen sie gerade gegenteilig: Die Ikonenwand bildet die Grenzlinie zwischen Himmel und Erde; ihre während der Liturgie immer wieder geöffneten Türen symbolisieren die Kommunikation zwischen Gott und den Menschen, ihre Bilder erinnern an die geheimnisvolle Gegenwart der darauf Abgebildeten, was als viel wichtiger angesehen wird als die Möglichkeit, dem menschlichen Handeln des Priesters am Altar zuschauen zu können. Hinter der mittleren Tür der Ikonenwand, der »Königstür«, befindet sich der Altar im Zentrum der mittleren Apsis. Zwei seitliche Türen geben ebenfalls den Weg in die seitlichen Apsiden des Allerheiligsten frei. Während die rechte Apsis als Aufbewahrungsort der heiligen Gewänder und Geräte und Vorbereitungsraum der Liturgen der westlichen Sakristei entspricht, dient die linke Apsis ebenso wie die zentrale mit dem Altar liturgischen Vollzügen.
 
Die unterschiedlichen äußeren Formen der westlichen und östlichen Kirchen markieren theologische Differenzen, insbesondere im Verständnis der Liturgie: Der orthodoxe Gottesdienst will nicht in erster Linie verkünden oder belehren; deshalb spielt die Predigt in ihm eine viel geringere Rolle als im Abendland. Der orthodoxe Gottesdienst gilt als heiliges Schauspiel, der alle Sinne anspricht: Die Farben und die Gesänge, die Gerüche des Weihrauchs, der Glanz der vielen Kerzen, die prächtigen Gewänder der Liturgen und der Goldglanz der Ikonen sind Elemente dieses heiligen Schauspiels, von dem der orthodoxe Christ glaubt, dass sich die Herrlichkeit des Himmels selbst in das Tun der Menschen herabsenkt. Das, was eine Ikone im Letzten ausmacht, will auch der Gottesdienst sein: Gott nähert sich dem Menschen im Vollzug der liturgischen Feier auf eine den Sinnen zugängliche Weise. Weil also Gott selbst in diesem heiligen Schauspiel mitwirkt und damit dem Tun der Menschen eine ganz eigene Qualität verleiht, sprechen die Theologen lieber von »Mysteriendrama« denn von Schauspiel. So gesehen ist der Gottesdienst auch viel eher etwas, das Gott für den Menschen wirkt, als etwas, das die Menschen Gott gegenüber zu seiner höheren Ehre leisten.
 
Der erste Teil des byzantinischen Gottesdienstes vollzieht sich für den Besucher im Verborgenen. Hinter den noch geschlossenen Türen der Ikonostase stehend bereitet der Priester zusammen mit dem Diakon am Rüsttisch in der linken Apsis die Gaben von Brot und Wein vor. Mit einem einer Lanze nachgebildeten Messer schneidet er aus dem Opferbrot einen großen Würfel heraus, der »Lamm Gottes« genannt wird und der Kommunion des Priesters und der Gläubigen dient. Nach der im Stillen vollzogenen Bereitung der Gaben geht der Diakon mit dem Weihrauchfass durch die Kirche, beräuchert die Ikonen, aber auch die anwesenden Gottesdiensteilnehmer, die »lebendigen Ikonen des Herrn«.
 
Sichtbar und hörbar beginnt die Liturgie mit dem Eingangssegen des Priesters, nachdem der Diakon vor die zentrale Pforte (»Königstür«) der Ikonostase getreten und die erste der verschiedenen litaneiartigen Fürbittreihen, der »Ektenien«, erklungen ist. Es folgen die Gesänge der Antiphonen, darauf der kleine Einzug, die symbolische Darstellung des Kommens Christi, des himmlischen Lehrers, zum Verkünden der Frohbotschaft: Das Evangelienbuch wird hereingetragen, und der Priester begibt sich zum Altar. Nach der Lesung aus den nichtevangelischen Büchern des Neuen Testaments sowie der Verkündigung des Evangeliums hält mancher orthodoxe Priester wie in der abendländischen Messe eine Predigt. Anderen ostkirchlichen Traditionen gemäß wird die Predigt als Kurzansprache für einen fruchtbaren Empfang der Kommunion erst vor dieser gehalten.
 
Vor dem »Großen Einzug«, dem Beginn der eigentlichen Eucharistiefeier, werden Fürbitten für die Taufbewerber (Katechumenen) vorgetragen: Danach übertragen der Priester und der Diakon die auf dem Rüsttisch bereiteten Gaben auf den Altar. In den Erklärungen der Heiligen Liturgie gilt der »Große Einzug« als symbolischer Nachvollzug des Einzugs Jesu in Jerusalem am Palmsonntag. Zum Eucharistischen Hochgebet (»anaphora«), dem Kern des Gottesdienstes, werden heute zwei Anaphorentexte verwendet. Meistens feiert man die »Liturgie des heiligen Johannes Chrysostomos«, das Hochgebet, das nach diesem Patriarchen benannt ist, dessen Urheberschaft aber nicht als gesichert gelten kann. Auch wird die Basilius-Liturgie verwendet. Eine Fürbittreihe bereitet auf das Vaterunser und die Kommunion vor. Das »Lamm« wird geteilt; wie im Abendland kommt ein Stückchen des konsekrierten Brotes in den verwandelten Wein. Dazu wird aber auch etwas kochendes Wasser in den zum Blut Christi gewordenen Wein gegeben. Die historischen Gründe hierfür sind noch nicht ganz geklärt; klar aber ist die mystische Bedeutung: Gemeint ist die Glut des Heiligen Geistes, dessen Herabkunft ja die Wandlung bewirkt und dessen Wirkung der Kommunizierende so noch mit seinen Sinnen erfahren soll. Nach der Kommunion des Priesters und des Diakons kommuniziert die Gemeinde. Schon früh reichte man den heiligen Leib vermischt mit dem heiligen Blut mittels eines Kommunionlöffels, der in Anlehnung an die Berufungsvision des Propheten Jesaja, bei der ein Engel mit einer Zange ein Stück glühender Kohle nimmt und damit dem Propheten den Mund zum Prophetendienst öffnet, auch »heilige Zange« genannt wird.
 
Auf eine weitere Fürbittreihe folgt der abschließende Segen. An das altkirchliche Brudermahl erinnert noch die Austeilung gesegneten Brotes (»antidoron«). Die Gläubigen kommen nach vorne vor die »Königstür« der Ikonostase, küssen ein Kreuz, mit dem der Priester jeden einzelnen. Christen gesegnet hat, und empfangen von einem Altardiener das Antidoron. Ganz zum Schluss der Liturgie werden noch Segenswünsche auf die kirchliche Hierarchie gesungen, die der Chor mit dem Wunsch »Auf viele Jahre« beantwortet. Die Feier des Todes und der Auferstehung des Herrn bestimmt sowohl den einzelnen Sonntag als auch den Jahreskreis. Als das Hauptfest des ganzen Kirchenjahres begehen alle orthodoxen Kirchen das Osterfest. Auch in der orthodoxen Bevölkerung gilt Ostern als das höchste aller Feste; es wird mit vielen Bräuchen gefeiert, die den Sieg des Lebens über den Tod zum Thema haben.
 
Prof. Dr. Michael Kunzler
 
 
Dalmais, Irénée-Henri: Die Liturgie der Ostkirchen. Aus dem Französischen. Aschaffenburg 21963.
 Müller, C. Detlef G.: Geschichte der orientalischen Nationalkirchen. Göttingen 1981.
 Onasch, Konrad: Kunst und Liturgie der Ostkirche in Stichworten unter Berücksichtigung der Alten Kirche. Wien u. a. 1981.

Universal-Lexikon. 2012.

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